Was Angehörige oft fühlen – und nicht sagen

Was Angehörige oft fühlen – und nicht sagen
Photo by Nik Shuliahin / Unsplash

Die schwere Multisystemerkrankung ME/CFS verändert die Welt nicht nur für uns Betroffene. Auch das Herz und das Leben derjenigen die bleiben ist betroffen: die Angehörigen, die PartnerInnen, Eltern, Geschwister und Freunde. All diejenigen, die versuchen, da zu sein, obwohl nichts mehr ist, wie es war.

Sie kochen unsere Lieblingsgerichte, obwohl uns der Appetit fehlt. Sie sitzen leise auf der Bettkante, wenn Worte zu viel sind. Organisieren uns Arzttermine, führen Gespräche mit Ämtern und halten irgendwie die Welt zusammen – auch wenn sie selbst oft kurz davor sind, zu zerbrechen.

Wohin mit den Gefühlen

Und trotzdem schweigen sie. Vieles von dem, was sie fühlen, bleibt unausgesprochen. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Rücksicht. Nicht, weil sie nichts empfinden – sondern weil sie oft sogar zu viel fühlen. Aber dennoch nicht wissen, wohin mit ihren Gefühlen. Oder ob sie das, was sie fühlen und denken überhaupt aussprechen dürfen. Weil es vielleicht anders rüberkommen könnte als es gemeint ist. Vielleicht undankbar. Oder egoistisch.

Da ist zum Beispiel dieser Gedanke: „Ich vermisse dich – so wie du früher warst.“
Nicht, weil man das Jetzt ablehnt. Sondern weil Krankheit eben nicht nur Symptome verändert, sondern auch Beziehungen. Gemeinsame Spaziergänge, spontane Reisen, gemeinsames Lachen ohne Rücksicht auf Energie. All das fehlt. Und es darf fehlen. Es ist kein Verrat, wenn man um das trauert, was einmal war.

Ständige Unsicherheit zehrt

Oder: „Ich habe Angst, dass es so bleibt.“ Auch Angehörige hoffen. Und verzweifeln. Und hoffen wieder. Denn ME/CFS ist unberechenbar und die Rückschläge kommen plötzlich. Besserung manchmal kaum merklich. Diese ständige Unsicherheit zehrt natürlich auch an denen, die begleiten.

„Ich bin manchmal überfordert.“ So ein Satz kommt Angehörigen – wenn überhaupt -  nur schwer über die Lippen. Schließlich geht es „doch gar nicht um mich“. Doch das stimmt nicht. Denn auch Begleitung ist Belastung. Pflege, Verantwortung, emotionale Präsenz – oft ohne Anleitung und ohne Pause. Man will nicht klagen, hat aber an vielen Tagen das Gefühl nicht mehr alles alleine tragen zu können.

Grenzen werde verschoben

„Ich weiß nicht, was dir guttut – und habe Angst, etwas falsch zu machen.“
Diese Erkrankung verschiebt Grenzen. Nähe kann zu viel sein und Gespräche können ermüden. Besuch kann Freude bringen, aber auch einen Crash auslösen. Angehörige tasten sich vorsichtig voran, oft mit dem Gefühl, auf dünnem Eis zu gehen. Die Sorge, etwas falsch zu machen, ist ständiger Begleiter.

Und dann dieser leise, verzweifelte Gedanke: „Ich würde so gern etwas ändern – aber ich kann es nicht.“ Das ist vielleicht der schwerste Gedanke. Denn er drückt Ohnmacht aus. Und das ist schwer auszuhalten, wenn man es gewohnt ist, Lösungen zu finden. Zu organisieren. Zu retten. Aber ME/CFS entzieht sich schnellen Lösungen. Und mit ihr oft auch die Hoffnung.

Was ich mir wünsche

Was ich mir wünsche? Dass auch diese Gedanken Platz haben dürfen. Ohne Schuldgefühle und ohne Bewertung.

Denn es hilft niemandem, wenn Angehörige sich aufopfern – und dabei selbst zerbrechen. Es hilft niemandem, wenn Schweigen Nähe ersetzt. Oder wenn alle das Richtige wollen, aber niemand mehr den Mut hat, ehrlich zu sein.

Es darf ausgesprochen werden: „Ich weiß gerade nicht, was du brauchst.“
Oder: „Ich bin einfach da, auch wenn ich ratlos bin.“
Auch Sätze wie: „Ich vermisse dich“ oder „Ich bin müde“ dürfen gesagt werden. Sie schaffen Nähe – nicht Distanz.

Auch Angehörige dürfen ihre Grenzen achten

Und auch Angehörige dürfen ihre Grenzen achten. Dürfen mal Nein sagen. Sie dürfen sich zurückziehen und eigene Bedürfnisse haben. Denn Selbstfürsorge ist kein Verrat, sondern die Grundlage dafür, uns langfristig begleiten zu können.

Nicht jeder Tag bringt Lösungen. Aber jeder Tag kann Verbindung bedeuten – selbst im Stillen. In einem Tee, der kommentarlos ans Bett gestellt wird. In einem liebevollen Blick. In der Entscheidung, da zu bleiben.

An alle, die begleiten:
Ihr müsst nicht perfekt sein.
Ihr dürft fühlen, was ihr fühlt.
Ihr dürft müde sein. Und gleichzeitig stark.

Danke, dass ihr da seid.
Danke, dass ihr versucht zu verstehen.
Danke, dass ihr bleibt.


Mich interessiert, was ihr denkt und fühlt – egal, ob ihr selbst mit ME/CFS lebt oder jemanden begleitet:


Angehörige: Welche Gedanken oder Gefühle begleiten Euch, die Ihr selten aussprecht? Was hilft Euch, Kraft zu finden?


Betroffene: Welche Worte oder Gesten Eurer Angehörigen haben Euch besonders berührt oder unterstützt?

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